Die Welt um 1900
Als Minna Fasshauer 1875 geboren wurde, lag die Bürgerliche Revolution von 1848/49 gerade 30 Jahre zurück, bewegte die Gedanken der Menschen und veränderte ihren Alltag nachhaltig.
Die Errungenschaften, liberale Regierungen von Berlin bis Wien, Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt am Main, die Erlaubnis, erstmals Presseerzeugnisse herauszugeben, die Aufhebung der Zensur waren alte Forderungen und neue Erfahrungen für die Arbeiter*innenbewegung. Die Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit, die Erfahrungen in der betrieblichen Wirklichkeit, das Erkennen der gemeinsamen Lage schaffte Zusammengehörigkeit und bekam grenzüberschreitend Struktur. Forderungen konnten abgestimmt und einheitlich erhoben werden. Marx und Engels hatten mit dem „Manifest der kommunistischen Partei“ der sich entwickelnden Arbeiter*innenbewegung politisch den Weg gewiesen. Arbeiterzeitungen entstanden.
Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 hatte vielen Familien den Ernährer genommen, verschärfte ihre Armut und veränderte den Alltag der arbeitenden Menschen. Herkömmliche Familienstrukturen zerbrachen an den Erfordernissen industrieller Produktion.
Aber – da war auch etwas Neues in die Welt gekommen – neue Akteur*innen hatten die politische Bühne betreten und beeinflussten zunehmend das Bewußtsein auch der deutschen Proletarierinnen! In Frankreich – ausgehend von Paris – hatte sich die Arbeiterklasse politisch die Macht erkämpft. „Sich aus dem Elend zu erlösen“ gelang 1871 erstmalig in der Geschichte mit und durch die Pariser Kommune.
Die Frauen der Kommune sind Legende! https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=ON8Fj3x3Fy0
Bis vor kurzem noch Gegner im deutsch-französischen Krieg verbünden sich Bismarcks Truppen mit der französischen Regierung gegen die Arbeiterklasse von Paris. Sie schlagen die Pariser Kommune nieder. Die Zahl der ermordeten, verschleppten Kommunard*innen wird mit 5.700 bis 17.000 angegeben. Es handelt sich Experten zufolge um eines der größten Massaker, das im Europa des 19. Jahrhunderts an Zivilisten verübt wurde.
Auch die Frauen der Kommune werden verhaftet, ermordet oder wie Louise Michel in die Kolonien nach Australien verschleppt.
Es war die erste Räterepublik der Welt. Sie dauerte 72 Tage.
In dieser kurzen Zeit entstanden feministische Massenorganisationen unter dem Einfluss von Elisabeth Dimitroff und der Buchbinderin Nathalie Lemel. Ihre Erfolge dürfen als Ursprung für die Forderungen gelten, die von den Frauen weltweit formuliert wurden, für die sie auch in Deutschland kämpften. Das waren u.a.:
- Erstmals erhielten die Frauen per Dekret das Recht auf Arbeit und auch den gleichen Lohn wie Männer.
- Die Arbeitszeit wurde von 16 auf 10 Stunden verkürzt.
- Sie erstritten weitere Rechte wie die Gleichstellung ehelicher und nicht ehelicher Kinder und erkämpften das Scheidungsrecht.
- Sie bildeten Frauenorganisationen, in und mit denen sie für die Rechte der Frauen in der Gesellschaft kämpften.
Die Kommune wurde geschlagen, aber „Alle Macht den Räten!“ wurde Leitgedanke der organisierten Arbeiterinnen und Arbeiter nicht nur in Frankreich, sondern auch der Revolutionär*innen in Russland und der deutschen Arbeiter*innenklasse.
Um den Aufbruch der Frauen in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu verstehen, müssen wir uns die Welt vor Augen halten, in der sie sich durchsetzen mußten, eine Welt, die extrem militaristisch und emanzipationsfeindlich geprägt war. Adel, Klerus und Bürgertum, Konservative und Liberale waren sich bei aller Unterschiedlichkeit der Interessen einig in der Ablehnung von gleichberechtigten Frauen; insbesondere deren Anspruch, politisch ihr Leben selbst zu gestalten. Auch die Arbeiter waren nicht frei davon, hatten aber begonnen, die Welt neu zu denken. Die industrielle Entwicklung und damit die radikale Veränderung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen zwangen dazu.
Die Menschen strömten vom Land in die Stadt und in die Fabriken. Die Zahl der erwerbstätigen Frauen verdoppelte sich 1875-1907 beinahe.
Die maschinelle Entwicklung in den Fabriken schritt rasch voran; sich zu organisieren und Forderungen zur Verbesserung ihrer Lage zu erheben wurde existenziell wichtig: für das Vereins- und Versammlungsgesetz, für das Wahlrecht auch für Frauen, für den Achtstundentag und höhere Löhne, für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen wurde gekämpft, gestritten und gestreikt.
Adel, Klerus und Bürgertum antworteten mit Repressionen, denen Reichskanzler Bismarck als Vertreter der Staatsmacht 1878 mit dem „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vom 21. Oktober 1878 Rechnung trug:
§ 1
„Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen etc. verordnen …:
Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten.
Dasselbe gilt von Vereinen, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zu Tage treten. …“
Hausdurchsuchung, Verhaftung, Verfolgung, Gefängnis, Exil bestimmte die folgenden Jahre das Leben der Arbeiter*innenschaft und ihrer Familien. Gewerkschafts- und Parteizugehörigkeit war in die Illegalität verwiesen, das hieß in der Praxis: nichts im Haus zu haben, was Verdacht erwecken könnte, Schriftstücke, Briefe zu vernichten, nichts zu verraten, über nichts zu reden, um nicht mit harten Strafen belegt oder ins Gefängnis oder Zuchthaus geworfen zu werden.
Aber auch nach Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 wurden die Arbeiter*innenvereine weiter schikaniert, was ihre Arbeit erschwerte bis behinderte. Die rechtliche Ausgrenzung war zwar aufgehoben, die gesellschaftliche blieb jedoch noch eine lange Zeit, bestimmte ihr Verhältnis zum Staat und den staatlichen Organen und wirkte bis ins private Leben. Im Herzogtum Braunschweig, wo der Polizeiknüppel herrschte, war dies besonders ausgeprägt.
Dies war die Welt, in die Minna Fasshauer hineingeboren wurde und die sie später auch in Braunschweig vorfand. Verhältnisse, die hier weit rückständiger waren als im übrigen Reich.
Was wir über sie gefunden haben, beschreiben wir auf den folgenden Seiten. Eine Ausstellung ist geplant.