9. Die Reaktion marschiert

Mit dem Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch wurde bereits jener Weg eingeschlagen, der 13 Jahre später zum Ende der Weimarer Republik führte. Er kennzeichnet das Ende der Novemberrevolution, deren Errungenschaften wie Demokratie und Parlamentarismus durch einen geschichtlich einmaligen Generalstreik gerettet wurden.
Vergeblich versuchten die neuen Herren mit Demagogie, Lügenmeldungen und vor allem durch die Anwendung brutaler militärischer Gewalt, die Hunderte Tote und Verletzte forderte, ihre Position zu festigen. Selbst mit der von Kapp am 15. März erlassenen Verordnung, die über »Rädelsführer« und Streikposten die Todesstrafe verhängte, war die Kampffront der werktätigen Massen nicht aufzubrechen. Am 17. März mußten Kapp und Lüttwitz abtreten.
Das war die Situation, in der Minna Faßhauer in den 20er Jahren in Braunschweig politisch tätig war.

Der Kapp-Putsch in Braunschweig

Mit Beginn des Jahres 1920 verstärkten die Kapp-Anhänger auch in Braunschweig ihre Aktivitäten. Im Januar kommt es in Hannover zu einer Besprechung, zu der auch Heinrich Jasper, damals Staatsminister, eingeladen ist. Unter massivem Druck der Militärs stimmt er zu, dass wesentliche demokratische Rechte außer Kraft gesetzt werden:

  • Am 28. Januar 1920 wird im Freistaat Braunschweig der Ausnahmezustand verkündet.
  • Am 2. Februar werden alle Versammlungen, Kundgebungen u.ä., auf öffentlichen Straßen
    und Plätzen verboten.
  • Mit Wirkung vom 2. Februar 1920 wird das Erscheinen neuer Zeitungen und Flugblätter
    verboten.
  • Am 14. Februar wird in Braunschweig die vollständige Überwachung des Post-, Telefon und
    Telegrammverkehrs verfügt.
  • Anfang März wird der noch bestehende Landesarbeiterrat aufgelöst und seine weitere
    Tätigkeit unterbunden.

Generalstreik 1920 auch in Braunschweig
Aufruf zum Generalstreik des ADGB:

Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) ruft am 13. März 1920 zum Generalstreik auf:
An alle Arbeiter, Angestellte und Beamte! Männer und Frauen!
Die deutsche Republik ist in Gefahr! Der gesamte Arbeiterschutz ist bedroht!
Für den Inhalt verantwortlich:
C. Legien – F. Aufhäußer.

Aufruf aller Arbeiterparteien Braunschweigs zum Generalstreik:
14. März 1920
An die revolutionäre Arbeiterschaft!
Männer und Frauen des arbeitenden
Volkes!
Der Putsch der Offiziere und Monarchisten ist Wirklichkeit geworden.
Die bisherige Regierung ist beseitigt.
General Lüttwitz, der Würger der Arbeiterbewegung,
ist der militärische Diktator Deutschlands.
Männer und Frauen, es gilt den Kampf um die Freiheit,
gilt den Kampf für den revolutionären Sozialismus!
Gegen die Militärdiktatur!
Gegen den weißen Schrecken!
Gegen die Wiederherstellung der Monarchie!
Tretet in geschlossener und einiger Kampffront in den Generalstreik !
Vereinigt Euch zur Verteidigung Eurer Rechte !
Nieder mit der Militärdiktatur !
Nieder mit der Reaktion der Offiziere und Monarchisten !
Morgen, Montag, vormittags 10 Uhr, im Konzerthaus:
Öffentliche Versammlung. Keiner darf in den Betrieb gehen!

Wir gehen davon aus, daß Minna Faßhauer an den Kämpfen beteiligt war, um die Errungenschaften der Novemberrevolution zu sichern und die Republik vor dem Zugriff der Putschisten zu schützen. Außerdem ist der Aufruf gemeinsam von allen Arbeiterparteien verfaßt worden, also auch von der KAPD, zu der sie gewechselt war.

Die Freiheit
Organ der Unabhängigen sozialdemokr. Partei des Freistaates Braunschweig

„Heraus mit den politischen Gefangenen!
Die Reaktion ist nicht tot! Was jedem Einsichtigen schon längst klar war, ist eingetroffen: Die
Reaktion hat ihr Haupt erhoben. Im verblendeten Kampfe gegen links hatte man alle reaktionären Mächte gestärkt, bis sie sich stark genug glaubten, die niederzuringen, welche sie großgezogen haben. …“
„In Braunschweig hat sich das werktätige Braunschweiger Volk in einer gewaltigen Versammlung schon am Sonnabend, den 14. März 1920 zusammengefunden, um in Tatbereitschaft zu stehen gegen die Reaktion. Diese Versammlung bewirkt, dass die reaktionären Elemente Braunschweigs sich duckten und keinen Versuch machten, sich zur Kapp-Regierung zu stellen.“ …
„Die Reaktion ist nicht tot. Sie ist lebendig. Geduckt ein wenig. Aber sprungbereit! Denn die Reaktion lebt, solange der Kapitalismus lebt! Der Kapitalismus ist der Nährvater der Reaktion. Über die Abwehr eines plötzlichen Anspringens der Reaktion hinaus muß die Arbeiterschaft weiter den Kampf führen gegen den Kapitalismus, die Quelle der Reaktion. Wenn sich dessen die Arbeiter bewusst werden, dann werden sie, über alles hinwegsehend zusammenstehen zum Endkampf. …
Erreicht ist eine Abwehr der reaktionären Offizierskaste, die sich Deutschland zur Beute ausersehen hatte. Der Kapitalismus, der wie ein Vampyr am Mark des Volkes saugt, lebt und speist die Reaktion mit der vom Volk erpressten Beute. Ihm gilt‘s! Vom Kampfe zum Kampf – das muß die Parole des sozialistischen Proletariats sein!“

Kein zurück!
Die Arbeiterschaft beschloß in Massenversammlungen einmütig, den Streik nicht abzubrechen, bevor nicht sämtliche politischen Gefangenen freigegeben sind und bevor nicht der Zentralvorstand, der zum Generalstreik aufgefordert hat, eine neue Parole ausgibt.

Obwohl der Putsch mit einem Generalstreik niedergeschlagen wurde, muß sich die Arbeiterschaft gegen Provokationen, Übergriffe, Handgreiflichkeiten vom Stahlhelm und zwei weiteren militaristischen Verbänden wehren. Auch deren erklärtes Ziel ist die Zerschlagung der Arbeiter-Organisationen und der Erfolge der Novemberrevolution.

Angesichts der politischen Lage waren die Angriffe auf die Arbeiterschaft für Minna Faßhauer nicht beendet und sie widersetzt sich 1921 dem Entwaffnungsgesetz. Sie wird wegen dieses Vergehens verurteilt, aber später amnestiert. In den folgenden Jahren war die Arbeiterklasse gezwungen sich auch gegen willkürliche Verhaftungen und konstruierte Anklagen zu wehren. Ein Beispiel dafür war der Ingenieur Kurt Seyferth. Seine Frau schreibt ihm ins Gefängnis (Auszug):

„Mein lieber Kurt!
Hast meinen Brief gefunden, wo ich‘s Dir mitteilte, dass Noske während meiner Abwesenheit
Hausdurchsuchung gemacht haben, nach was weiß ich nicht, die schriftlichen Sachen haben
sie auch durchgesehen, da sind doch keine Handgranaten drinn. …Den Nachmittag ging ich
in Versammlungen. … Dann sprechen noch mehrere, Genossin Fassauer sprach auch.
Man muß Stimmung gegen sie gemacht haben. Oerter, Eckardt u.s.w., aber sie hat sich fein
durchgesetzt, man könnte fast sagen eine zweite Rosa Luxemburg was Energie und Tatkraft
anbelangt.“

Bereits Anfang Januar 1921 zeichnet sich ab, dass die politische Hexenjagd begonnen hat.

Niedersächsische Arbeiter-Zeitung vom 7. Januar 1921:

Was geht in Braunschweig vor?
Seit einigen Tage durchschwirren dunkle Gerüchte die Stadt Braunschweig. Man sprach von
Verhaftungen usw. … Es sind bisher vier bis fünf Genossen der K.A.P. verhaftet worden, die man mit dem Postraub am Hagenring in Verbindung zu bringen versucht. Uns scheint diese Postraubgeschichte nur ein Vorwand zu sein, zumal bei verschiedenen Genossinnen … Haussuchungen abgehalten worden sind. Hinzu kommt noch, dass die Wohnung der Genossin Faßhauer stark bespitzelt wird und besonders in den letzten Tagen.

Daher sind wir der Auffassung, dass allerorten die Spitzel wieder eifrig am Werke sind, um die Arbeiter zu Torheiten zu verleiten. … Das Proletariat muß Obacht geben, damit es nicht einmal solchen Lumpen in die Finger fällt, zum anderen, dass diesen Kerlen das Handwerk gründlich gelegt wird. … Der Arbeiter hat wahrlich seine Fäuste nicht nur zum Profitschanzen, sondern damit er sich auch seiner Feinde erwehren kann.

Am 12. Januar 1921 berichtet die Niedersächsische Arbeiter-Zeitung auf Seite 2:

Kampfstimmung lag über der öffentlichen Volksversammlung im Konzerthaus, die die V.K.P.D. zu Montag einberufen hatte. Etwa 2000 Arbeiter und Arbeiterinnen waren erschienen, um zu demonstrieren gegen die schamlosen Provokationen der weißen Terroristen, …, die Amnestierung des ehemaligen Oberleutnants v. Vogel, eines der Mörder Rosa Luxemburgs,  das Blutbad von Flensburg, die ungeheuer gesteigerte Spitzeltätigkeit usw. – all das sind beredte Zeichen der Zeit.

Genosse Schmidt streifte dann die Braunschweiger Vorgänge „… und die Bespitzelung der Genossin Faßhauer …, all das macht es notwendig, dass das Braunschweiger Proletariat auf der Hut ist. Uns werden keine Hindernisse schrecken, wir werden kämpfen bis die Weltrevolution gesiegt hat.“ (Lebhafter Beifall.) …

Genossin Faßhauer erklärt, man habe bei ihr gehaussucht. Man habe ihr gesagt, es sei ein Spitzel aus Süddeutschland da, und damit dieser ruhig arbeiten könne, müsse sie auf einige Tage festgesetzt werden. Sie machte im voraus darauf aufmerksam, dass sie bei einer evtl.  Verhaftung keinen Fluchtversuch machen werde. Sie rechne auf die Solidarität des revolutionären Proletariats. (Zustimmung.)
In seinem Schlusswort betont Genosse Schmidt nochmals, dass wir, wie im übrigen Deutschland, auch in Braunschweig vor Provokationen stehen, und dass das Proletariat sich durch einen Selbstschutz sichern müsse. …

Im Juni beginnen dann die Vorkommnisse, die bis heute den fortschrittlichen Kräften der Novemberrevolution zur Last gelegt werden: verschiedene Dynamit-Anschläge:

Braunschweiger Allgemeiner Anzeiger
Donnerstag, 30. Juni 1921, Seite 2
Verbrecherischer Dynamit-Anschlag. Teilzerstörung des Tennishauses im Bürgerpark
Am Mittwoch abend gegen 11 Uhr wurde die Ostseite des Tennishauses im Bürgerpark durch einen Bombenanschlag vollständig zertrümmert. Das als Umkleideraum für Damen benutzte Zimmer, … gleicht einem Schutthaufen. …Die Explosion muß an der Tür des Umkleideraumes erfolgt sein. Menschenleben sind glücklicherweise nicht zu beklagen. …

Braunschweiger Allgemeiner Anzeiger
Mittwoch, 13. Juli 1921, Seite 2:
Stadt Braunschweig
Neue Dynamitanschläge in Braunschweig
Eine unruhige Nacht.
Anschlag auf die Garnisonkirche. – Dynamitsprengung in der Bismarckstraße. – Ein Sipomann überfallen. – Einbruch.
Die vorige Nacht war in Braunschweig sehr unruhig. Es sind Anzeichen vorhanden, dass hier eine Verbrecherbande ihr Unwesen treibt. Über die Vorgänge der letzten Nacht liegen folgende Berichte vor:

Ein Dynamitanschlag auf das Haus Bismarckstraße 7
Bewohner der Steintorgegend vernahmen am Dienstag abend kurz vor 11 Uhr einen sehr scharfen Knall der von einer Sprengung herrühren mußte. Es stelle sich heraus, dass auf das Haus Bismarckstraße Nr. 7, in dem der Gerichtschemiker Nehring wohnt, ein Anschlag verübt worden war, und zwar war das Laboratorium durch den Anschlag vollständig zerstört worden. Alle Anzeichen lassen darauf schließen, dass der Anschlag von derselben Seite verübt wurde, wie jener auf das Tennishaus im Bürgerpark.
Die Sprengladung bestand allem Anschein nach auch hier aus Dynamit. …

Anschlag auf die Garnisonkirche.
Der zweite Anschlag, der kurz darauf vorgenommen worden ist, hatte nicht ganz den gewünschten Erfolg. Die Garnisonkirche ist, abgesehen von einigen zertrümmerten Türen, unbeschädigt geblieben. …

Braunschweiger Allgemeiner Anzeiger
Donnerstag, 14. Juli 1921, Seite 2
Ein neuer Dynamit-Anschlag
… Wie sich alsbald herausstellte, war wieder ein neuer Dynamitanschlag verübt worden. Der Anschlag galt diesmal dem Besitztum des Rittergutsbesitzers Ernst Lekebusch, Am Gaußberg 6. … Der Anschlag ist auf ähnliche Weise wie die beiden am Dienstag abend verübt worden. …

Weder Polizei noch Regierung setzen eine Belohnung zur Ergreifung der Täter aus, sondern:

Wir setzen für die Entdeckung derjenigen Personen, welche
durch die in letzter Zeit hier stattgehabten Explosionen mittels
Sprengmaterial Schäden an Gebäuden verursacht haben, aus
der Kasse der Landesbrandversicherungs-Anstalt
Zehntausend Mark
Belohnung aus. Die Zuteilung des Betrages erfolgt durch das
Direktorium der Staatsbank unter Ausschluß des Rechtsweges.
Direktorium der Braunschweigischen Staatsbank
Stübben

Heimliche militärisch eingerichtete Verbände in Braunschweig?
Vom Presseamt des Staatsministeriums gehen uns folgende Mitteilungen zu:
Im Freistaat Braunschweig bestehen drei ungesetzliche Organisationen, die ihre Mitglieder heimlich in Verbänden militärischer Art zusammengeschlossen haben und, soweit die Ermittelungen reichen, sämtlich von der Orgesch finanziell und zum Teil auch organisatorisch abhängen. Ihre Namen sind „Selbstschutz“, „Stahlhelm“ (Bund der Frontsoldaten“ und „Braver Heyderich“. Um den Geist zu
kennzeichnen, der in diesen Organisationen herrscht, seien aus dem außerordentlich umfangreichen Belastungsmaterial nur zwei Proben aus der Stadt Braunschweig angeführt:

1. Am 30. März d. Js. Fand bei Professor Ausfeld eine Oberführer-Versammlung des „Selbstschutz“ statt, in der unter anderem über die Lage der kommunistischen Partei Bericht erstattet wurde. Von einer Seite wurde zu größter Vorsicht gemahnt, worauf der Führer des Stoßtrupps, Erich Geffers, Ottmerstraße 5, erklärte, „man solle der Gesellschaft die Köpfe blutig schlagen und sie alle an die Wand stellen, Oerter, Junke und Buchterkirchen dazu.“

2. Am 2. Juni d. Js. fand eine … Versammlung des „Stahlhelm“ statt, in der im Anschluß an einen Vortrag … nationalistische Verhetzung getrieben wurde.

3. Es handelt sich bei den vorstehend angeführten Fällen lediglich um zwei herausgegriffene Beispiele, die den furchtbaren, geistigen und moralischen Tiefstand dieser verhetzten Volksschichten zeigen. Dies ist die Atmosphäre, in der … politische Attentate entstehen, …Das Staatsministerium wird das gesamte Material über die genannten ungesetzlichen Organisationen der Staatsanwaltschaft zur weiteren Veranlassung übergeben.

… Die obigen Mitteilungen machen den Eindruck, als habe das Staatsministerium vor allen Dingen einmal zeigen wollen, wie genau es über alle einzelnen Vorgänge unterrichtet ist. Wenn der Beweisstoff für ungesetzliche Handlungen übrigens, wie gesagt ist, der Staatsanwaltschaft übergeben worden ist, so wird man in nächster Zeit weiteres hören.
                                                                                                                                          Braunschweiger Allgemeiner Anzeiger, 18.06.1921, Seite 2

Das ist das Klima, in dem die Arbeiterschaft kollektiv unter Verdacht genommen und Minna Faßhauer angeklagt und verhaftet wird.

Für sie waren die Angriffe auf die Erfolge der Novemberrevolution nicht beendet: Sie widersetzt sich 1921 dem Entwaffnungsgesetz, wird wegen dieses Vergehens verurteilt, aber später amnestiert. Sie steht unter ständiger Beobachtung, die Familie wird mit Hausdurchsuchungen überzogen.

 

Verhaftungen

Niedersächsische Arbeiter-Zeitung
8. September 1921, Seite 4:

Aus Braunschweig
Massenverhaftung von Kommunisten in Braunschweig.
Fieberhaft arbeitet in den letzten Wochen der Polizeiapparat des Freistaates Braunschweig. Täglich werden uns Mitteilungen von Verhaftungen bekannter kommunistischer Genossen gemacht. So ist in den letzten Tagen wiederum eine Anzahl Genossen von der KAP. verhaftet worden. Ein Genosse wurde vom Krankenbett, eine Genossin von ihrem 1 ½ jährigen Kinde weg verhaftet. Der Vater des Kindes war bereits schon vor 14 Tagen eingesperrt worden.

Die Behörden schweigen, kein Polizeibericht meldet von den Verhaftungen. Wie Schwerverbrecher werden die Verhafteten behandelt und direkt nach Wolfenbüttel ins Zuchthaus gebracht. Minister Junke (USP.), Justizminister des Landes Braunschweig, kann keine Auskunft geben, warum die Genossen verhaftet wurden. …
Der Spitzelapparat ist stark in Tätigkeit. Allerhand Gestalten treten an unsere Genossen heran und verlangen Dynamit, Waffen, Flugzeuge und sonstige Dinge. Auf der anderen Seite kommen wiederum abgesandte Provokateure und bieten an: Maschinengewehre, Brownings, Feldgeschütze, 98er Gewehre mit Hunderttausenden von Schuß Munition. Nur Geld fehlt uns, mit all den angebotenen Waffen könnten wir eine Rote Armee ausrüsten. Am 30. August 1921 erschien, jedenfalls auch in höherem Auftrage, im KPD.-Büro, Klint 31, ein Bürschchen von 25 Jahren in Uniform, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse und noch anderen Abzeichen, und bot zwei Waggons Waffen für 1 125 000 Mark an und verpflichtete sich, diese Ladungen unbemerkt von behördlichen Spähern in die Lagerräume eines kommunistischen Fabrikbesitzers gelangen zu lassen. Unsere Genossen haben dieses Früchtchen dann dingfest gemacht und der hiesigen Kriminalpolizei übergeben.

Ein Vierteljahr nach diesem Bericht gelangt Anfang Dezember 1921 ein Schreiben der Untersuchungsgefangenen aus der Haft nach draußen und wird in der Niedersächsischen Arbeiter-Zeitung am 6. Januar 1922 auf der Seite 4 veröffentlicht:

Aus Braunschweig

An die Bauarbeiter und Zimmerleute der Baustelle Spinnerei, an die Spinnereiarbeiter, sowie die der andern Betriebe, welche an uns denken!

Wolfenbüttel, den 5. Dezember 1921.

Liebe Arbeitsbrüder und –schwestern! Liebe Genossen!

Mit unendlicher Freude haben wir gehört, dass Ihr uns als Klassengenossen mit Eurer Solidarität zur Seite steht, dass Ihr damit unser Schicksal zu dem Eurigen macht, und dass Ihr mit uns zu fühlen wißt. Die ansehnlichen Sammlungen, durch die Ihr auch uns eine Weihnachtsfreude gemacht habt, beweisen uns, dass Ihr noch Gemeinschaftsgefühl und den Klassenwillen in Euch habt, der manchem Arbeiter abhanden gekommen ist. Dieser Wille stärkt und kräftigt. Laßt die helle Flamme, die in das Dunkel des Käfigs leuchtet, nicht verlöschen! Sie soll uns das Weihnachtslicht sein!

Und heute, wo die Glocken „Frieden“ und „Liebe“ läuten, wo eine blutige Lüge geputzt und blinkend durchs Land zieht, um uns in Schlaf und Zufriedenheit zu wiegen, und die Vergangenheit mit all dem Grauen, den Unterdrückungen und den vielen Arbeitermorden in uns vergessen zu machen, – heute, wo das Elend und die Not das Proletariat verzehrt, wo seine Mörder und die Kappisten, wo die Ludendorffe, Runges, Marlohs, Tamschicks usw. noch immer frei herumlaufen, und wo die Liebknechte, die wahren Menschen der Liebe, die Zuchthäuser und Gefängnisse füllen, ja, heute wollen wir unseren Feinden heilige Rache schwören und Mut und Kraft für die kommenden Kämpfe und Entbehrungen sammeln! So stimmt mit ein in den Ruf:

„Eh’ nicht der Sklaverei Ende:

Heilig die letzte Schlacht!“

Auf baldiges Wiedersehen im neuen, hoffentlich besseren Jahre!

Hermann Burtchen, Otto Busch, Paul Engemann, Rudolf Claus, Emil Gehrmann, Franz Junge, Frau Fassauer, Pitzser, Wilhelm Pätz, Karl Lange, Alfred Merges*, Wilhelm Rinne, Ludwig Rusch, Otto Meyer.

(Für die Genossen Renker und Schulze haben die Genossen aus Hannover und Delligsen gesammelt)

* Bei Alfred Merges handelt es sich um den Sohn von August Merges,den Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrates und Präsidenten der Sozialistischen Republik Braunschweig, die das Ergebnis der Novemberrevolution war.

Ein weiteres halbes Jahr später, am Dienstag, den 21. März 1922, erfahren wir u.a. aus den Braunschweigischen Anzeigen:

„Die Braunschweiger Dynamitattentate vor dem Schwurgerichte.
Am Dienstag begann vor dem Schwurgericht die auf 3 – 4 Tage berechnete Verhandlung gegen die kommunistische Sprengkolonne, die im Sommer vorigen Jahres durch ihre lichtscheue Tätigkeit die Bevölkerung der Stadt Braunschweig beunruhigte. Während der Dauer der Verhandlung sind durch … Polizeiaufgebot besondere Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden.

Aus der Untersuchungshaft wurden auf die Anklagebank geführt: … die am 10. Oktober 1875 in Bleckendorf, Kreis Wanzleben, geborene Ehefrau des Schmiedes Georg Faßhauer in Braunschweig, Frau Minna Faßhauer geb. Nicolai, … der am 10. April 1900 in Delligsen geborene Mechaniker Alfred Merges, …
Für den unteren Zuhörerraum sind nur 60 Einlaßkarten ausgegeben. Zahlreiche Reflektanten von Einlasskarten, die lange vor Beginn der Verhandlung vor dem Justizgebäude Aufstellung nahmen, mußten abgewiesen werden.“

Im Artikel heißt es weiter:

„Laut Anklageschrift wird den Angeklagten, von denen Frau Faßhauer vor einigen Monaten aus der Untersuchungshaft auf ihre Bemühungen entlassen wurde, der Dynamitanschlag auf das Tennishaus im Bürgerpark am Abend des 29. Juni 1921, und die einige Tage bzw. mehrere Wochen später erfolgten Anschläge auf die Garnisonkirche, das Haus des Gerichtschemikers Dr. Nehring und schließlich der Anschlag auf die Villa des Rittergutes Leckebusch am Gaußberg zur Last gelegt.“

Dem „Braunschweiger Allg. Anzeiger“ vom 21. März 1922 ist der Kern der Anklage zu entnehmen:
Danach soll Minna Faßhauer am 5. Januar 1921 mit dem Fahrrad nach Delligsen (Kreis Gandersheim) gefahren sein, und dort einen Einwohner gefragt haben, „ob noch Dynamit vorhanden sei“, diese Information einem Mitangeklagten weitergegeben zu haben, der zum Zeitpunkt des Prozesses aber flüchtig war und nicht zur Sache befragt werden konnte und so wissentlich „durch Rat und Tat“ Beihilfe geleistet haben.

Anmerkung:

Im 85 km entfernten Delligsen im Landkreis Holzminden, das 1918/19 zum Regierungsbezirk des Arbeiter- und Soldatenrates gehörte, gab es einen Kalksteinbruch, der das täglich Brot vieler Delligser war.

Natürlich gab es wie in jedem Steinbruch auch dort Dynamit, und das Wissen über und der Umgang mit Dynamit  war den Delligsern vertraut und in Braunschweig bekannt – der Präsident der Sozialistischen Republik Braunschweig, August Merges, saß dort für die SPD im Gemeinderat, bevor er nach Braunschweig kam.

Folgen wir der Anklage, muß Minna Faßhauer, 46jährig, nach Delligsen und zurück 170 km mit einem Fahrrad damaliger Bauart  die hügeligen Straßen des Vorharz bei einer Temperatur von etwa 7° C, so die Wetterhistorie, bewältigt haben.

Minna Faßhauer erklärt sich für nicht schuldig und verweigert ebenso wie die Mitangeklagten die Aussage. Sie verbleibt  in Untersuchungshaft … obwohl berichtet wird, daß sie zwischendurch auch mal auf eigene Bemühungen entlassen wird.

Im ersten Artikel über die Eröffnung der Anklage wurden bereits die Paragraphen aufgezählt, die zur Verurteilung heranzuziehen seien.

Die Anklage zu stützen, beruft sich die Staatsanwaltschaft mehrfach auf einen „Gewährsmann“, den sie aber weder benennen will noch als Zeugen lädt, weil er nicht erreichbar sei.

Minna Faßhauer wird zu neun Monaten Gefängnis verurteilt, die mit der Untersuchungshaft abgegolten waren.

Anmerkung:

Die bürgerlichen Ehrenrechte werden ihr trotz der Schwere der Anklage – immerhin „kommunistische Terrorakte!“ – nicht aberkannt.

Aber der Grundsatz „Im Zweifel für die Angeklagte“ fand keine Anwendung.

Die Beweise für Minna Faßhauers Beteiligung an den Anschlägen fehlen bis heute.

Die Verurteilung erscheint  als politisch gewolltes Konstrukt.

Der Verteidiger Justizrat Fränkel aus Berlin äußerte, er habe seit 20 Jahren in großen politischen Prozessen die Verteidigung geführt, aber „ich habe noch niemals ähnliches erfahren wie in Braunschweig.“

Die „Braunschweigische Landeszeitung“ schreibt am 22. März 1922 über den ersten Prozesstag:

„Die Braunschweiger Dynamitanschläge vor den Geschworenen.

Zu der Verhandlung am Dienstag gegen die Urheber der Dynamitanschläge waren (…)
Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden (…) und im Saale selbst war ein starkes Aufgebot von Sicherheitsmannschaften. Zwischen den einzelnen Angeklagten hatte je ein Beamter Platz genommen. Die Mehrzahl der Angeklagten hatte vor der Verhandlung eine recht vergnügte Miene aufgesteckt. Als Frau Faßhauer den Saal betrat, tönte ihr ein „Morgen, Minna!“ von einem schon anwesenden Angeklagten entgegen. Fröhlich lächelnd begrüßte sie einen jeden durch Handschlag.“

Am 22. März 1922 titelt die „Freiheit“, die Zeitung der USPD:

„Ein politischer Prozeß. Schwere Beschuldigungen gegen Untersuchungsrichter. –
Die Angeklagten verweigern die Aussagen.

(…) Gleich zu Beginn der Verhandlung kam es zu lebhaften Szenen zwischen der Verteidigung und dem Vorsitzenden. Der Justizrat Fränkel protestierte gegen die erhebliche Beeinträchtigung, die die Angeklagten dadurch erhalten haben, dass sie erst im Dezember 1921 Gelegenheit hatten,, mit ihren Verteidigern zu sprechen, trotzdem sie zum Teil schon seit Juli 1921 in Untersuchungshaft waren.

„Seit 20 Jahren“, sagte Justizrat Fränkel, „übe ich die Anwaltspraxis aus, ich habe in großen politischen Prozessen die Verteidigung geführt, aber ich habe noch niemals ähnliches erfahren wie in Braunschweig. Der Untersuchungsrichter Gerhard hat es fertig gebracht, ihm (…) die Aussprache mit den Angeklagten zu verweigern. Und zwar habe er erklärt, er kenne Justizrat Fränkel und seine Berufsauffassung nicht. (!)…
Der Untersuchungsrichter, Landrichter Gerhard, hat es aber weiter fertig gebracht, an die Gefängnisverwaltung zu schreiben, dass Justizrat Fränkel nur im Beisein des Untersuchungsrichters die Angeklagten sprechen dürfe. … Er könne nicht laut genug dagegen protestieren. …

Rechtsanwalt Hegewisch erklärt dann, dass er die Angeklagten auf ihr Recht hingewiesen habe, die Aussage zu verweigern.“ Er unterstrich die Ausführungen des Justizrates Fränkel. Beide protestierten auch dagegen, dass der Untersuchungsrichter Spitzel in die Zellen der Angeklagten geschickt habe, die sich das Vertrauen der Inhaftierten erschleichen sollten, um diese unter emotionalem Druck zu Aussagen zu verleiten. Hier soll nicht verschwiegen werden, dass sich einer der Angeklagten in der Untersuchungshaft das Leben genommen hat.

Die Beweise gegen Minna Faßhauer werden konstruiert, die Verurteilung erfolgt auf der Grundlage von Vermutungen:

Das „4. Blatt der Neuesten Nachrichten“ schreibt am 26. März 1922 auf Seite 13:

(…) „Nicht so milde (…) könne Frau Faßhauer angesehen werden. Diese sei eine entschlossene Persönlichkeit. Gegen diese Angeklagte beantragte der Staatsanwalt 10 Monate Gefängnis, (…)“

Das Urteil

Die Haftbefehle gegen (…) Frau Faßhauer hat das Gericht aufgehoben. (…) „Das Gericht hat dann auf folgende Strafen erkannt: Frau Faßhauer 9 Monate Gefängnis. Die bürgerlichen Ehrenrechte wurden den Angeklagten nicht aberkannt. Die Untersuchungshaft ist allen Angeklagten in vollem Umfang angerechnet worden.“

Wegen „kommunistischer Terrorakte“ gegen Kirchen und bürgerliche Institutionen wird sie ohne konkrete Beweise wegen „Dynamitvergehen“ zu neun Monaten Haft verurteilt, nach vier Monaten aber amnestiert. Diese Verurteilungen wegen angeblichem Dynamitvergehen- bzw. Waffenbesitz waren eine beliebte Methode in der Weimarer Republik, um missliebige Personen willkürlich zu verhaften, in der Regel Novemberrevolutionär*Innen, die geholfen haben, den Kapp-Putsch niederzuschlagen und die Republik zu retten.