8. Novemberrevolution 1918

Gegen Ende des Jahres 1918 bereitete sich die Arbeiterschaft in Braunschweig auf den fünften Kriegswinter vor. Die Versorgung mit Lebensmitteln, wichtigen Gütern des täglichen Bedarfs und Brennmaterial hatte sich mit jedem Kriegsjahr zusehends verschlechtert. Auch die sozialen Leistungen der Betriebe waren reduziert worden. Der Schwarzhandel blühte.

Kohlrübenwinter

„Die breite hungernde Masse, die aß weiter nichts als Steckrüben. Ob das Marmelade war, die war voll Steckrüben, oder ob das Wurst war, die war voll Steckrüben.“
Pro Kopf und Tag:
„3 Scheiben minderwertiges, vornehmlich aus Kohlrüben gefertigtes Brot
19 Gramm Fleisch und Wurst, die mit Sägespänen gemischt war
7 Gramm Margarine

Braunschweig 1918

„Illustrierte Zeitung zur Geschichte der Braunschweiger Arbeiterbewegung“

Zur gleichen Zeit im Schloss:

„Aus ihrem persönlichen Vermögen (Schatulle) – jährlich 68.000 Mark ohne Zinseinkünfte und Vermögensübertragung – konnte Victoria Luise 1917 so genannte Gnadengeschenke, vor allem also Spenden für Bedürftige, etwa 3.500 Mark ausgeben, während sie 12.000 Mark für ihre Garderobe aufwendete.

1915 hatte sie noch etwa 5.000 Mark für solche Gnadengeschenke und 24.000 Mark für ihre Garderobe aufwenden können.

Zitiert nach Gerd Biegel u.a.:

„Victoria Luise Kaisertochter, Herzogin und Braunschweiger Bürgerin“

S. 140: Wulf Otte: „Herzogin Victoria Luise – braunschweigische Landesmutter 1913-1918“

Joh.Heinr.Meyer Verlag, 1992

Am 7. November 1918 zog eine große Menschenmenge durch die Stadt, öffentliche Ämter wie das Polizeipräsidium in der Münzstraße wurden besetzt, Arbeiter bei Büssing und anderen Fabriken wurden mobilisiert. Fast die gesamte Braunschweiger Garnison lief zum Arbeiter- und Soldatenrat über.

Am 8. November 1918 gingen erneut Tausende auf die Straße. Im Laufe des Tages versammelten sich zwischen Ackerhof und Schlossplatz ca. 20.000 Menschen und warteten, daß etwas geschehe. Während Merges gegen 10 Uhr von einem Balkon des Volksfreunde-Hauses zur Menge sprach, wurde auf dem Schloss die Rote Fahne gehisst.

(siehe auch „Die rote Fahne über dem Braunschweiger Schloss“ Novemberrevolution 1918/19 in Braunschweig. Hermann Wallbaum erzählt. In: Braunschweigs rote Seiten, DKP Braunschweig, Region Braunschweig.)

Am Nachmittag ging eine Abordnung unter Merges Führung in das Schloss zu Herzog Ernst-August und forderte ihn zur Abdankung auf. Nach kurzer Bedenkzeit und nach Beratung mit seinen Ministern unterzeichnet dieser die Urkunde. Er verließ Braunschweig am folgenden Tage zusammen mit seiner Familie nach Gmunden ins österreichische Exil.

Sozialistische Republik Braunschweig

Am 10. November wurde unter Führung von August Merges die „Sozialistische Republik Braunschweig“ ausgerufen, die von nun an unter der Herrschaft der Volkskommissare (Spartakus und USPD) stand. Diese wurden von Sepp Oerter geführt.

Dem Arbeiterrat gehörten 25 Revolutionär*innen an, davon 7 Frauen, die zu 28 Prozent in dem Gremium vertreten waren:

Otto Kasten, Selma Trautmann, Marta Schuster, Hulda Graf, Paul Kühnel, Otto Grauer, Wilhelm Wegele, Henry Brennecke, August Merges, Minna Faßhauer, Paul Gmeiner, Karl Eckardt, Rudolf Klaus, Robert Gehrke, Rudolf Pfeiffer, Emma Böhm, Anna Menge, Berta Kaufmann, Arno Krosse, Wilhelm Voß, Gustav Gerke, Karl Dietermann, Karl Meinecke, Karl Stegmann, Wilhelm Hotopp. (Braunschweigische Landeszeitung, 9.11.1918)

Die von diesem Gremium vorgeschlagenen Volkskommissare wurden von 20.000 auf dem Schloßplatz versammelten Menschen gewählt.  (Bericht in der Festschrift zu 90 Jahre SPD Braunschweig 1955, vermutlich von einem Zeitzeugen)

Die Einhaltung demokratischer Voraussetzungen – Diskussion, Vorschlag, Wahl – in einer revolutionären Situation entspricht den Prinzipien direkter Demokratie und verdient höchste Anerkennung.

Die Volkskommissare begannen sofort mit der Organisierung einer Räteregierung und der Verteilung von Zuständigkeiten auf die Volkskommissariate. Minna Faßhauer wurde das Ressort Volksbildung übertragen. Damit übernahm erstmals eine Frau in einem der Länder/Herzogtümer und damit im deutschen Reich ein Ministeramt.

Während ihrer Amtsführung erließ sie zwei Gesetze, die bis heute Gültigkeit haben:

  • Sie befreite die Schulen von der Oberhoheit und Weisungsbefugnis der Kirche
  • Und sie schaffte die gesetzliche Grundlage für weltliche Einheitsschulen, an denen die Geschlechtertrennung aufgehoben wurde.
  • Außerdem verbannte sie Kriegs- und Fürstenverherrlichung aus Schulbibliotheken und Unterricht und ersetzte die Kriegs- durch Kulturgeschichte. -> auch Schule/Bildung

Das neue Gesetz über die Volksschulaufsicht wurde auch im „Amtsblatt des Braunschweigischen Landes-Konsistoriums aufgenommen. Das Recht der Oberaufsicht der Kirchen stand in der Hierarchie bis 1918 dem Herzog zu, der die damit verbundenen Pflichten aber in die Hände  des zuständigen Staatsministeriums legte. Die Schrift „Braunschweigs Freudentage“ hält die Begrüßungszeremonien des Herzogs fest. Im Festgottesdienst im Dom St. Blasii freut sich der Hof- und Domprediger Dr. v. Schwartz :

„…so grüßen wir heute hier im Gotteshause als Christengemeinde, den, der fortan oberster Bischof unserer Landeskirche und zugleich das vornehmste Glied der Gemeinde sein wird, …“ („Braunschweigs Freudentage, Aktenstücke, Reden etc zur Thronbesteigung Seiner Königlichen Hoheit des Herzogs Ernst August zu Braunschweig und Lüneburg“, Braunschweig 1913, Verlag von Hellmuth Wollermann, Hof- Buch- und Kunsthändler)

Diese Zuständigkeit fiel dem Volkskommissariat für Volksbildung zu, das seine Verpflichtungen nicht delegierte, sondern selbst wahrnahm und so fand Minna Faßhauer Eingang in das Amtsblatt, wo es unter § 1 heißt:

„Die bislang von dem Staatsministerium wahrgenommene Oberaufsicht und oberste Leitung des gesamten Unterrichtswesens wird in der Republik Braunschweig von dem Volkskommissariat für Volksbildung ausgeübt, insoweit nicht für einzelne Arten von Schulen (z.B. Fachschulen usw.) abweichende Bestimmungen getroffen werden.“

Die Revolutionärin Minna Faßhauer erscheint verantwortlich im Amtsblatt des Landeskonsistoriums.

Der Dank für diesen Hinweis geht an den Kirchenhistoriker und Pastor i.R. Dietrich Kuessner.

Besuch in den Neuerkeröder Anstalten.

Der Volksfreund berichtet am 12. Februar 1919, daß die Volkskommissarin Minna Faßhauer im Januar 1919 die Neuerkeröder Anstalten besuchte. Eine Presseerklärung des Volkskommissariats  bestätigt am 12. Februar 1919:  „Mit Befriedigung konnte festgestellt werden, daß die in vielen Fällen außerordentlich schwere und mühsame Fürsorge für die in kleineren Gruppen untergebrachten rund 400 jungen und alten Zöglinge in guten Händen liegt.“

Der Arbeiter- und Soldatenrat in Wolfenbüttel

Etwa gegen 5 Uhr trafen am Morgen des 9. November 1918 Mitglieder des Arbeiter- und Soldatenrates in Wolfenbüttel ein. Nach kurzer Verhandlung wurde die Kaserne besetzt und die Offiziere entwaffnet. Anschließend wurden Rathaus und Polizeiwache von Soldaten besetzt. Aus dem Gefängnis wurden die widerrechtlich verurteilten Arbeiter und Soldaten befreit. Schwerverbrecher bleiben weiter in Haft. Gegen Mittag des 9. November fand im „Löwen“ (heute Kaufhaus in der Breiten Herzogstr.), eine Volksversammlung statt, auf der Minna Fasshauer, die spätere Volkskommissarin für Volksbildung, sprach.

Der Inhalt ihrer Rede ist nicht überliefert. Bekannt ist jedoch, dass auf ihren Vorschlag hin ein Arbeiter- und Soldatenrat als Vollzugsorgan des Willens der Arbeiter und Soldaten gewählt wurde.

Darüber berichtet der „Braunschweiger Allgemeine Anzeiger“ am 9. November 1918:

Am 15. November 1918 nahm der Arbeiter- und Soldatenrat einen Wahlrechtsentwurf an, der allen Personen über 20 Jahren das geheime, gleiche und direkte Wahlrecht zuerkannte.

Volksfreund am 16. November 1918:

In der Sitzung des Arbeiter- und Soldatenrates am 28. November 1918 weist Minna Faßhauer darauf hin, dass, wenn die Unabhängigen nicht das Szepter in die Hand genommen hätten, noch viele Menschenleben an der Front und auf der See dem alten Regime zum Opfer gefallen wären, und dass diese hier viel wichtiger wären, um ihre ehemaligen Unterdrücker zu bekämpfen, wie die Braunschweigische Landeszeitung am 29. November 1918 unter der Überschrift „Die Braunschweiger Regierung über den Ernst der Lage“ berichtet.

Ergebnisse der Novemberrevolution:

1918:

Der Feudalismus, die Herrschaft von Adel und Klerus wurde beseitigt. Es entstand eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie und in ihr Rechte und Freiheiten, wie z.B. (chronologisch):

  • Beseitigung der Gesindeordnung und damit Beseitigung personenbezogener Herrschaft und Willkür
  • Einführung der Arbeitszeitverordnung am 23.11.1918 incl. Einführung des Acht-Stunden-Tages,
  • Einführung von Erwerbslosenfürsorge und Arbeitslosenhilfe durch Verordnung am gleichen Tag
  • Tarifvertragsverordnung vom 23.11.1918, d.h. Vorrang des Tarifvertrags vor

Einzelarbeitsvertrag

  • Generelle Notwendigkeit der Bildung von Arbeiterausschüssen (23.11.1918)
  • Anerkennung der Gewerkschaften als Vertreter der abhängig Beschäftigten
  • das allgemeine Wahlrecht / Frauenwahlrecht
  • Koalitions- und Versammlungsfreiheit
  • Kündigungsschutz, Arbeitsschutzbestimmungen, Mutterschutz
  • Abschaffung der Zensur

1920:

  • Betriebsrätegesetz: Arbeitgeber nicht mehr unbeschränkter „Herr im Haus“

1923:

  • Schlichtungsverordnung (bei nicht-gütlicher Einigung der Tarifvertragsparteien „Zwangstarif“ des Staates)

1926:

  • Arbeitsgerichtsgesetz löste die Arbeitsgerichtsbarkeit ab der zweiten Instanz aus Land- undReichsgericht und schuf dem Arbeitsleben entsprechende eigene Strukturen.

Die Arbeiter und Soldaten, die im November 1918 gegen Krieg, Imperialismus und Kapitalismus aufstanden, schufen Tatsachen, die bis heute wirken, und heute schon wieder verteidigt werden müssen.

Entsprechend des sich seit Jahren herauskristallisierenden Zieles der Arbeiterbewegung, Leben und Arbeit in die eigenen Hände zu nehmen, waren konkrete Vorstellungen und Forderungen entstanden, wie eine Räterepublik zu organisieren sei. Dafür wurde reichsweit gekämpft:

Räterepublik oder Parlamentarismus?

Im Bericht über den Gründungsparteitag der KPD ist das Konzept für eine Räterepublik zu finden, das in ganz Deutschland diskutiert wurde. Es ist die Antwort auf Unterdrückung und Polizeiknüppel und entspricht den jahrzehntelang diskutierten Vorstellungen der Arbeiterschaft. So wollten sie die Republik organisiert sehen:

Betriebsräte, die im Einvernehmen mit den Arbeiterräten die inneren Angelegenheiten der einzelnen Betriebe ordnen, die Arbeitsverhältnisse regeln, die Produktion kontrollieren und schließlich die Betriebsleitung übernehmen. Im Entwurf einer Berliner Kommission sollte ferner für jedes zusammenhängende Wirtschaftsgebiet ein

Bezirkswirtschaftsrat gebildet werden, der in allen Fragen, die die Arbeitsverhältnisse und die Kontrolle der Produktion und des Handels im Bezirk betreffen, selbständig zu entscheiden hat. Ein

Zentralwirtschaftsrat für das Reich hätte namentlich die Kontrolle der Rohstoffproduktion und des Außenhandels und die Belieferung der einzelnen Industrien mit Arbeitsmitteln vom Standpunkte der Überleitung zur sozialistischen Wirtschaft.

Die Arbeiterschaft sah in dieser Form der direkten Demokratie ihre Rechte glaubwürdiger garantiert als sie das im Parlamentarismus erkennen konnte. Nicht Abschaffung sondern mehr Demokratie war das Ziel – auch von Minna Faßhauer. Dies zu vertreten wurde sie in den Braunschweigischen Landtag delegiert.

Die Frage „Räteregierung oder Parlamentarismus“ wurde seit Jahren heftig diskutiert. Ende Dezember 1918 wurde schließlich ein Landesparlament gewählt. Die Wahl endete für die USPD unbefriedigend, denn obwohl sie stärkste Partei im Stadtgebiet wurde, konnte sie auf dem Land nicht an diese Ergebnisse anknüpfen, während das bürgerliche Lager sich konsolidiert hatte.

Als klar wurde, daß eine Mehrheit im Landtag mit der Minderheit des Bürgertums gegen die Forderung der Arbeiterschaft nach einer Räterepublik und für den Parlamentarismus stimmen wird, zog Minna Faßhauer die Konsequenzen:

Braunschweiger Allgemeiner Anzeiger, 8. März 1919

Am 1. Januar 1919 (in Braunschweig im März) gründete der Spartakusbund aus der politischen Lage die Konsequenzen ziehend die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Diesen Weg ging Minna Faßhauer nicht mit.

Die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin durch Angehörige der Garde-Kavallerie-Schützen-Division am 15. Januar 1919 führte deutschlandweit zu teils bürgerkriegsähnlichen Unruhen. In Braunschweig demonstrierten am 20. Januar 30.000 Menschen gegen den politischen Doppelmord. Die Lage in der Stadt verschärfte sich daraufhin.

Anfang April 1919 spitzte sich die Lage in der Stadt dramatisch zu.

Am 9. April 1919 riefen die Spartakisten auf dem Schloßplatz den Generalstreik aus. Ziel des Streiks sollte zum einen der Sturz der Koalitionsregierung in Braunschweig sein, zum anderen die Errichtung einer Räteregierung in ganz Deutschland. Zu diesem Zwecke wurden folgende Forderungen gestellt:

  • Alle Macht den Arbeiterräten
  • Absetzung der „Mörder-Regierung“ Ebert/Scheidemann
  • Anschluß an die Russische Räterepublik
  • Auflösung der Nationalversammlung und sämtlicher Landesversammlungen
  • Bewaffnung der Arbeiterschaft
  • Befreiung aller politischen Gefangenen

Der Landesarbeiterrat fügte diesen noch drei eigene hinzu:

  • sofortige Sozialisierung durch Einführung von Betriebsräten
  • Auflösung aller Freikorps
  • Schaffung eines Volksheeres

Das Fernziel des Arbeiter- und Soldatenrates bestand in der Schaffung eines deutschen Einheitsstaates, in dem das Land Braunschweig aufgehen sollte; Nahziel war jedoch zunächst die Errichtung einer sozialistischen Staats- und Wirtschaftsordnung im Lande Braunschweig.

Die Reichsregierung lehnte diese Forderungen mit der Begründung ab, sie seien utopisch und deshalb nicht umsetzbar.

Die Auffassung in Berlin war: „Braunschweig war seit Ende 1918 politisch der ‚Mittelpunkt der kommunistischen Bewegung und der Herd aller Schwierigkeiten für die Durchführung der laufenden Arbeiten der Reichsregierung‘“

Auf Befehl Eberts verhängte Noske über Braunschweig den Belagerungszustand und schickte Freikorps unter dem Befehl von General Maercker nach Braunschweig, die die Novemberrevolution niederschlugen.