4. Schule – Bildung
Einer der kritikwürdigsten Bereiche war für die Braunschweiger Arbeiterbewegung der Bereich Schule. Ihre Kritik war ambivalent: zum einen war die Einbeziehung aller Familienmitglieder in den Erwerbsprozess überlebensnotwendig, zum anderen hatte sie ein elementares Interesse daran, daß ihre Kinder zu aufrechten Sozialisten erzogen werden. Die vorhandene Volksschule leistete das nicht, und das ländliche Leben und die Bedeutung der Dorfschulen darin beschreibt der Bildungshistoriker Uwe Sandfuchs so:
„An Dorfschulen muss ein „Schulmeister“ bis Anfang des 20. Jahrhunderts nicht selten bis zu 150 Schüler unterrichten. Im Herzogtum Braunschweig weist die Schulstatistik von 1907 aus, dass in 11 Gemeinden ein Lehrer mehr als 120 Kinder unterrichtet. Die Schulgebäude sind oftmals in ausgesprochen schlechtem Zustand. Oft sind gar keine Schulräume vorhanden, dann werden sogenannte Wanderschulen gegründet, für die reihum ein Bauer einen Schulraum in seinem Haus zur Verfügung stellen muss. Die „Schulstuben“ sind meist klein, es gibt Berichte über Räume, die 30 qm groß sind, in denen die Schüler eng aneinander gepresst sitzen oder stehen. Da kaum Luft zum Atmen ist, gibt es regelmäßig ohnmächtige Schüler oder Lehrer. Nicht selten schläft der Lehrer ein. So sind die Lehrer froh, dass die Schüler von den Eltern nicht in die Schule geschickt werden und stattdessen in der Landwirtschaft arbeiten. …“
Die größte Kritik der Arbeiter*innen am Schulwesen realisierte sich in der Organisierung eines eigenen Bildungsvereins für jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen, in dem sie sich Inhalte aneignen, die ihnen die Schule nicht vermitteln. So ergänzen sie selbstorganisiert fehlendes Wissen. Auf den Verein wird an anderer Stelle mehrfach eingegangen.
Die schulischen Erziehungsinhalte griffen tief ins Arbeiter*innenleben ein, und so folgt zwangsläufig, daß sich die Arbeiter*innenorganisationen mit deren Inhalten auseinandersetzten.
Wir gehen davon aus, daß gerade Minna Faßhauer sich um die Lehrinhalte gekümmert und diese kritisiert hat. Durch ihre schulpflichtigen Kinder hat sie unmittelbaren Zugang zu den schulischen Inhalten bekommen, die ihren Kindern vermittelt worden sind.
Die Kritik am Schulwesen ist nicht neu und nicht auf Braunschweig begrenzt:
Bereits im „Braunschweigischen Volksfreund“ vom 27. September 1903 setzt sich der Artikel „Die geistliche Schulaufsicht“ damit auseinander, daß Lehrer gemaßregelt werden: …
„In sittlicher und moralischer Hinsicht wirkt die geistliche Schulaufsicht in mancherlei Weise auf die Lehrer schädigend; sie ist die Quelle unsäglichen Elends und Unglücks für Lehrer und auch für Geistliche.“ …
Das sich zuspitzende Thema greift Clara Zetkin auf der Sozialistischen Frauenkonferenz 1904 in Bremen auf (Auszüge):
„Wir sind der Ueberzeugung, daß die Schulfrage, die Bildungsfrage von höchster Bedeutung für die proletarische Frauenbewegung ist, daß die Schulfrage im Leben der Millionen von Proletarierinnen, an die unsere Agitation sich wendet, eine hervorragende Rolle spielt. Die Volksschulfrage ist die nationale Erziehungsfrage.“ (Lebhafte Zustimmung) – und zitiert Comenius: „Die Bildung soll Alle, die da Menschen sind, zu Allem befähigen, was menschlich ist.“
„Gleichviel ob man heut Hammer oder Ambos ist, der Antheil an der Erziehung geht zurück, weil auch in den besser situirten Klassen der Kampf ums Dasein, rücksichts- und schonungslos entfesselt, den besten Theil der Kräfte der Eltern aufsaugt, sodaß für die Erziehung nur die Brosamen übrig bleiben, die vom Tische fallen. So ist die Volksschulfrage mehr und mehr Erziehungsfrage geworden. Wie liegen nun die Verhältnisse? In unsere Tagen ist die Volksschule Armeleute-Schule“.
Und zu den Inhalten: Kein Gegenstand steht so sehr im Widerspruch mit den elementaren Forderungen der Pädagogik. Der Religionsunterricht fördert das Denken nicht und regt es nicht an, sondern ertödtet es, weil an Stelle des Suchens und Forschens der Glaube an das Wort gestellt wird, weil das Gedächtniß mit todtem Ballast beschwert und die Lust am Lernen dadurch verkümmert wird. Die alten Regulative verlangen 180 Bibelsprüche. Man hat sich jetzt dahin geeinigt, ‘nur‘ 110 Sprüche aus dem Neuen und 20 bis 40 aus dem Alten Testament nebst 20 Gesangbuchversen lernen zu lassen. Darum rechtfertigt sich schon vom pädagogischen Geschichtspunkte die Forderung: Heraus mit der Religion aus der Volksschule!“
Das setzt sich die folgenden Jahre fort, wird politischer: „Der Kapitalismus braucht für die großen Proletariermassen, die er ausbeutet, nur ein gewisses Maß von Elementarkenntnissen – Bildung wäre hier ein zu schönes Wort“…
Die Ergebnisse der 5. Frauenkonferenz 1908 in Nürnberg, die unter der Leitung von Clara Zetkin und Luise Zietz stand, bewegen auch die Braunschweiger Arbeiterschaft: Clara Zetkins über die Jugendbewegung, aber vor allem Käthe Dunckers Vortrag über „Die sozialistische Erziehung im Hause“ finden Beachtung:
„Was heißt Erziehung?“ „Wie weit geht die Wirksamkeit?“ „Die häusliche Erziehung, der Familienkreis, bildet ja nur einen Teil der Einwirkungssphäre, des sogenannten Milieus…“ wird dort diskutiert und „…Wir brauchen Menschen mit klarem, folgerichtigem, klassenbewußtem Denken, mit starkem Gerechtigkeitsgefühl und sozialem Empfinden, mit festem Willen und solidarischem Handeln…“, die den „hohen Wert der menschlichen Arbeit“ schätzt, denn „…aus diesem Bewußtsein wächst der Stolz und die Würde des Arbeiters…“
So schreibt der „Volksfreund“, der über konkrete Schulforderungen berichtet, die von den Frauen und Männern der Arbeiterschaft formuliert und öffentlich gemacht wurden. Im herzoglichen Konsistorium, bei Adel und Kirche stoßen diese Forderungen aber auf taube Ohren.
Nichts hilft…bis die Arbeiter*innenschaft zum erprobten Mittel greift: sie macht ihren Zorn öffentlich.
31. Januar 1913:
Und am 4. Februar 1913:
Die Arbeiter*innen sprechen nun vom „Vorabend der endgültigen Schulverpfaffung“ (Volksfreund 14. März 1913)
Das setzt sich so und ähnlich fort bis 1918. In diesen Jahren konkretisiert die Braunschweiger Arbeiterschaft ihre Vorstellungen über Form und Inhalt eines sozialistischen Schulwesens im Sinne einer humanistischen Erziehung.
Um die Schulbücher, zumal die Deutsch- und Geschichtsbücher, gab es zwischen Regierung und Opposition immer wieder heftige Auseinandersetzungen, zumeist ausgetragen zwischen der bürgerlichen „Braunschweigischen Landeszeitung“, (21.04.1929) und dem „Volksfreund“ (18.04.1929).
Minna Fasshauer wurde 1918 Volkskommissarin für Volksbildung. Sie war eine kluge und tatkräftige Frau, die der bürgerliche Staat vor 1918 um eine angemessene Schulbildung betrogen hatte. Dafür nannte sie das Bildungsbürgertum nun verächtlich „Waschfrau“. Als solche stellt sie auch der Karikaturist der „Braunschweigischen Landeszeitung“ (BLZ) dar.
Am 21. November 1918 schafft sie die kirchliche Schulaufsicht ab. Damit befreite sie die Schulen von der Oberhoheit und Weisungsbefugnis der Kirche. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte jeder Dorfpfarrer das Recht, nach Gutdünken in die Belange der Schule einzugreifen. Das ging so weit, dass die Lehrpläne den Forderungen der Kirche entsprechend geändert werden konnten. Viele Schulfachleute sind Minna Faßhauer deshalb bis auf den heutigen Tag dafür dankbar.
Außerdem ordnet das Volkskommissariat für Volksbildung für sämtliche Schulen in der Sozialistischen Republik Braunschweig an:
- „Der Geschichtsunterricht darf fortan nicht mehr der Völkerverhetzung und Fürstenverherrlichung dienen. Die Kriegsgeschichte, die bisher übermäßigen Raum einnahm, muß der Kulturgeschichte den Vorrang lassen. Alle tendenziösen und falschen Belehrungen über den Weltkrieg und seine Entstehung sind zu unterlassen.
- Aus den Schulbüchereien sind alle Bücher, welche der Kriegs- und Fürstenverherrlichung dienen, zu entfernen.
- Die Lehrkräfte haben sich aller entstellenden Betrachtungen und Äußerungen über die Ursachen, den Verlauf und die Folgen der Revolution und die Zusammensetzung der gegenwärtigen Regierung, welche geeignet sind, die revolutionären Errungenschaften herabzusetzen, zu enthalten.
- Alle Lehrpersonen haben im Verkehr mit der Schuljugend alles zu unterlassen, was Stimmung machen könnte für die Herbeiführung einer Gegenrevolution, um nicht die Gefahren eines Bürgerkrieges mit seinem unabsehbaren Elend heraufzubeschwören.
Braunschweig, den 16. November 1918
Das Volkskommissariat für Volksbildung.“
Bedenken wir die Zeit, in der die Kirche eine der tragenden Säulen des Systems war verwundert es nicht, daß die Kirche die Mitarbeit in der neuen Volksschulkommission ablehnt. Stattdessen wird Minna Fasshauer auch von dieser Seite als „Flaschenspülerin“ und „Kinoplatzanweiserin“ beschimpft.
Minna Faßhauer setzt die Religionsmündigkeit auf 14 Jahre herab. Die bis dahin gültige Prozedur führt der Abgeordnete Retemeyer in der 14. Sitzung der Braunschweigischen Landesversammlung vom 18. März 1919 aus. Er sagt u.a.:
„In diesem Gesetz ist vorgeschrieben, dass, wenn jemand aus dieser Religionsgemeinschaft, (…) ausscheiden will, er sich zunächst an seinen Seelsorger zu wenden und ihm seine Absicht mitzuteilen hat. Er hat dann eine Frist von vier Wochen zu warten und muß nach vier Wochen wieder hingehen und sagen, ich bin auch jetzt bereit, aus der Kirche auszutreten. Erst dann kann er von dem Geistlichen eine Bescheinigung über seine Absicht, aus der Kirche auszutreten, bekommen und mit dieser Bescheinigung geht er dann zum Amtsgericht und erklärt zu Protokoll des Amtsgerichtes, ich trete aus der und der Kirche aus. Diese Erklärung konnte bisher nur ein Volljähriger abgeben. Das soll jetzt dahin geändert werden, dass der Austritt aus (…) den Kirchengemeinden jedem Landeseinwohner gestattet sein soll, der das 14. Lebensjahr vollendet hat. (…) aber schließlich hat man das Bedenken fallen lassen, weil es schon jetzt gemeines Kirchenrecht ist, dass mit vollendetem 14. Lebensjahre der einzelne über die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Glaubensbekenntnis entscheiden kann.“
Darüber hinaus engagiert sie sich für die Einrichtung von Volkskindergärten und Volksschulen und tritt für eine weltliche Einheitsschule ein:
„Bekanntmachung
Das Volkskommissariat für Volksbildung richtet an alle städtischen Verwaltungen und Schulvorstände das dringliche Ersuchen, durch einen möglichst weitgehenden Ausbau der Kinderhorte dafür zu sorgen, daß denjenigen Kindern, denen die nötige häusliche Aufsicht und Unterstützung fehlt, beides durch die Horte zuteil wird.
Ferner weist das Volkskommissariat darauf hin, daß auch für die vorschulpflichtige Jugend der arbeitenden Klassen durch die Begründung von Volkskindergärten gesorgt werden muß, damit sie beim Eintritt in die allgemeine Volksschule, deren Begründung in Aussicht genommen ist, möglichst nicht hinter den Kindern der anderen Volkskreise an Sprachfertigkeit und Reichhaltigkeit ihres Vorstellungslebens zurückbleiben.
Das Volkskommissariat für Volksbildung wird demnächst allgemeine Richtlinien für die Begründung und den Ausbau der Horte und Kindergärten herausgeben.
Braunschweig, 21. November 1918.
Das Volkskommissariat für Volksbildung.“
Einer mündlichen Überlieferung zufolge soll Minna Fasshauer energisch und selbstbewusst in einer Landtagsdebatte zur Bildungspolitik eine Rede in breitem braunschweigischem Slang mit folgenden Worten geschlossen haben: „… Und wenn Ihr damit einverstanden seid, dann folgt mich man!“
Eine andere Auslegung besagt, daß Minna Faßhauer das Zitat in den Mund gelegt wurde um sie herabzusetzen.
Belegt ist jedoch, dass diese Gesetzeswerke das Schulwesen nicht nur in ihrer Zeit revolutionierten, sondern ihre Wirkung bis heute entfalten.
Die folgende Meldung läßt erahnen, daß Minna Faßhauer die Verpflichtungen ihres Amtes nicht nur auf die Stadt beschränkte, sondern unverzüglich die Einrichtungen im Land Braunschweig besuchte, die in ihre Zuständigkeit fielen. Die Volkskommissarin besuchte Ende 1918/Januar 1919 die Neuerkeröder Anstalten. In einer Presseerklärung des Volkskommissariats, veröffentlicht im Braunschweiger Volksfreund vom 12.2.1919, wird die Praxis der kirchlichen Anstaltsleitung bestätigt: „Mit Befriedigung konnte festgestellt werden, dass die in vielen Fällen außerordentlich schwere und mühsame Fürsorge für die in kleineren Gruppen untergebrachten rund 400 jungen und alten Zöglinge in guten Händen liegt.“ Erwähnt wird auch, daß Minna Fasshauer durch die Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht den Unmut der Pfarrerschaft hervorgerufen habe.